Im Frühjahr 2010 gab mir eine Freundin eine CD, auf der ein Mann selbst vertonte Psalmen sang und sich auf der Gitarre begleitete. Ich hörte immer wieder fasziniert hinein.
Bald stand ich vor meinem Bücherregal und zog ein Bändchen mit Gedichten des schwäbischen Bauern und Poeten Christian Wagner (1835–1918) aus Warmbronn heraus. Hatte nicht Wagner seine Gedichte immer wieder als Lieder bezeichnet? So entstanden in den folgenden Wochen und Monaten, die Gitarre in der Hand, rund zwanzig Lieder, oder besser gesagt Folksongs, zu seinen Versen und Strophen. Ich wählte die Mittel, die ich hatte.
Christian Wagner war nicht der harmlose Kleinbauer, der Blumengedichte schrieb und alle Tiere liebte. Er war Anfang dreißig, als er nach dem Tod seiner Tochter zu schreiben begann. Es entstanden die Lieder des Leids. Trauer, Sehnsucht, aber auch Wut blieben die Wegbegleiter seines einsamen, lange unverstandenen Schaffens im abgeschiedenen Dorf.
Das Lied der Bitterkeit ist heute in eine Eisenplatte vor seinem Haus in Warmbronn graviert. Er war der Künschtler, auf der Suche nach Echte Freind. Die Berufung ereilte ihn bald, und immer lockte der Glanz der Ferne. Mir fallen dazu die Zeilen aus einem Bob Dylan-Song ein: »I was born here, and I’ll die here. Against my will.«
Christian Wagner hat Warmbronn letzten Endes nicht verlassen, doch seine Lyrik streut Samenkörner aus, die noch immer aufgehen. VK

Christian Wagners Wirkungsgeschichte in der Literatur weist bekannte Namen auf: Hermann Hesse (1877–1962) griff dem in Sachen Publicity unbeholfenen Poeten, dessen isoliertes literarisches Schaffen außerhalb der schwäbischen Heimat bis dahin kaum Kreise gezogen hatte, unter die Arme und gab einen Band mit Wagners Arbeiten heraus. Vielleicht war es gerade jener Gedichtband, der auch im Regal des österreichischen Dichters Johannes Freumbichler (1881–1949) stand, dem Großvater von Thomas Bernhard (1931–89); dieser jedenfalls benannte später Wagners Gedichte als ein erstes für ihn prägendes Leseerlebnis.
Auch Peter Handke (geb. 1942) fühlte sich von der Lektüre Christian Wagners inspiriert und widmete dem 1978 einen längeren Essay mit dem Titel Im Jenseits der Sinne. Darin stellt Handke fest: »Christian Wagner wollte kein Heimatdichter sein; […] weder Landschaft noch soziale Zugehörigkeit waren eine Heimat für ihn; der einzige Mythos, in dem er sich wiederfand, war ›das Sprechen seiner Sprache‹.«
Der Pflege des geistigen Erbes Christian Wagners hat sich die Christian-Wagner-Gesellschaft angenommen. www.cw-gesellschaft.de
Der Verleger Jürgen Schweier aus Kirchheim/Teck begann in den 1970er Jahren, die Originalwerke Chrisitan Wagners in liebevoll gemachten Faksimileausgaben (Leinenband, fadengeheftet, mit Lesebändchen und Schutzumschlag) aufzulegen und so wieder zugänglich zu machen. Die Bände Sonntagsgänge und Weihegeschenke sind als Neuware zum Sonderpreis über amazon zu bestellen. Mehr zu den beiden Bänden hier.
