In der Böblinger Zeitung Nr. 82 vom Samstag, 7. April 2012 erschien ein Interview mit Volker Kittelberger. Das Interview wurde geführt von Eddie Langner und ist im Folgenden wiedergegeben:
»Der Landwirt und Poet Christian Wagner galt als Visionär. In seinem bäuerlichem Umfeld verfasste er eine bemerkenswerte Lyrik. Sein Kerngedanke – die Schonung alles Lebendigen – legte den Grundstein für moderne Tierschutzgesetze und ist heute aktueller denn je. Zu Lebzeiten wurde Wagner (*1835; † 1918) von vielen Dichtern und Denkern hoch verehrt. Manche nannten ihn respektvoll den ›deutschen Tolstoi‹. In seinem Heimatort Warmbronn pflegt heute noch die Christian-Wagner-Gesellschaft sein Andenken.
Auf seine ganz eigene Art ehrt der Rutesheimer Architekt Volker Kittelberger (Jahrgang 1963) Wagners Andenken. Seine CD Kittels Wagner will dabei mehr sein als eine distanziert-verklärte Referenz. Er wollte sich Wagner zu eigen machen. Wie er das gemacht hat, erzählt er im Interview.
Herr Kittelberger, wir führen dieses Interview per Computer, weil Sie sich gerade in São Paulo in Brasilien aufhalten. Dürfen wir fragen, was genau Sie da tun?
Ich wollte mir nach gut 25 Jahren Architektentätigkeit in Stuttgart und drumherum mal einen ›Hiatus‹ gönnen, und zwar im Ausland. Aber nicht zum Pause machen, sondern um hier die Möglichkeiten zu prüfen, tätig zu werden. Nach einigem Hin und Her wurde mir klar, dass das von Deutschland aus schlecht organisierbar ist, und so bin ich Anfang März einfach ins kalte Wasser gesprungen und hierhergekommen.
Woher stammt Ihre Faszination für Christian Wagner?
Christian Wagner, den Namen kannte man halt als Schüler in Leonberg in den 1970er Jahren. Aber die Faszination ist erst jetzt bei der Lektüre des umfangreichen Werks aufgekommen. Nach der ersten Idee für mein Projekt habe ich ihn gründlich gelesen und schließlich den Wagner gefunden, der mich wirklich interessierte.
Was hat Wagner uns heute noch zu sagen?
Was hat Homer uns heute noch zu sagen? Literatur greift über die Zeiten. Irgendwie stellen sich doch immer wieder die gleichen Fragen, wenn auch in neuem Gewand. Christian Wagner thematisiert in seiner Lyrik klassische Konstellationen wie ›Einzelner und Gesellschaft‹, wie ›Heimat und Fremde‹ oder ›Weggehen und Zurückkehren‹, aber natürlich auch ›Leben und Tod‹, und die Frage nach dem Danach. Er entwickelt dabei in seinem isolierten Schaffen eine ureigene Mystik, und: Er findet dabei seine unverwechselbare Sprache, das ›Sprechen seiner Sprache‹, wie der österreichische Schriftsteller Peter Handke es ausdrückte.
Sie sagen über Ihre CD: ›Ich wollte das Denkmal Wagner vom Sockel holen.‹ Was meinen Sie damit?
Ich wollte nicht in Ehrfurcht erstarren und pflichtschuldig etwas abarbeiten. Aber diese Distanz wurde mir ohnehin bei der Lektüre des Werks genommen. Ich verstand plötzlich Wagner, und er wurde ›mein‹ Wagner. So entstand der CD-Titel. Ich möchte nicht missverstanden werden, ich teile nicht eins zu eins seine Ansichten. Ich habe versucht, ihn in diesem gewählten Werkausschnitt darzustellen und zu interpretieren, in seiner ganzen künstlerischen Zerrissenheit. Letztlich waren es die Mundartstücke Echte Freind und Künschtler, die mir eine zweite Perspektive eröffneten, mir eine frische Sicht auf den Menschen Christian Wagner ermöglichten. Ich schrieb sie erst während der Aufnahmesessions, quasi an einem Abend, das war ein befreiender Moment.
In besagtem Lied Echte Freind holen Sie Wagner in unsere jüngere Vergangenheit, lassen ihn mit HAP Grieshaber zusammentreffen und als Alt-Hippe einen Joint rauchen. Was würde Wagner wohl zu unserer heutigen iPhone-, Facebook- und Leistungsgesellschaft sagen?
Wagner war nicht konservativ. Im Gegenteil. Er wollte immer heraus aus seiner Umgebung, wollte fort, war neugierig auf Neues. Das Alte hatte er satt. Die Zeilen ›Lass hinter dir das Dorf drin du geweilt; das nichts als Irdisches mit dir geteilt‹ drücken das sehr gut aus. Er hat es letztlich nur in seinem Werk erreicht. iPhone und Facebook, das sind Werkzeuge, vielleicht auch zum guten Teil Eitelkeiten. Die gab es zu Wagners Zeiten auch schon, nur hießen sie anders.
Als Schüler haben Sie den Kampf um den Erhalt von Wagners Wohnhaus miterlebt. Wie sehr hat Sie das geprägt?
Die siebziger Jahre als Gymnasiast in Leonberg haben mich schon geprägt. Dies geschieht aber eher unbewusst, denke ich. Damals entstand, was man seitdem als alternative Szene bezeichnet. Die Zivilcourage, ›nein‹ zu sagen, gegen etwas anzukämpfen, eine eigene Meinung zu haben, das hat uns Schüler damals beeinflusst, und das ist sicher bis heute nicht verlorengegangen. Damals glaubten wir, dass wir als Zuspätgeborene ›1968‹, diese Zeitenwende, verpasst hätten; aber heute, im Rückblick betrachtet, muss ich sagen, dass das ja nur der Anfang war, dass sich erst in den siebziger Jahren die gesellschaftlichen Veränderungen langsam ereignen sollten.
Der Künstler HAP Grieshaber, übrigens, war ein ›Held‹ für mich damals; ein außerordentlicher Mensch, der immer eine eigene Meinung hatte, eine ganz unerhörte Meinung, so kam es mir vor. Ich glaube, dass das bis heute nicht recht gewürdigt ist. Da sich Grieshaber vehement, wie es seine Art war, für Wagner eingesetzt hatte, konnte ich schließlich an Wagner nicht zweifeln.
Im CD-Booklet zitieren Sie Bob Dylan. Der hat sich ja selbst nach dem Lyriker Dylan Thomas benannt und Folkmusik mit lyrischen Texten verbunden. Wie stark hat Dylan Sie beeinflusst?
Bob Dylan war natürlich der Wendepunkt, das Modell, auf dem die, sagen wir mal, ›moderne‹ Folkmusik seit Mitte der sechziger Jahre aufbaut. Sozusagen der Zeitpunkt der ›Aufklärung‹. Alle anderen kamen danach. Was für mich vor diesem Hintergrund zählte, war jedoch die Frage: Funktioniert diese Folkmusik auch mit deutschen Texten? Mit Texten, die über hundert Jahre alt waren? Es funktionierte. Und mehr noch: Es funktionierte sogar mit meinen eigenen Texten in schwäbischer Mundart, jenseits allen Klamauks.
Sie sind vom ›Preis der deutschen Schallplattenkritik‹ in der Kategorie ›Lieder und Songs‹ für die Bestenliste des zweiten Quartals 2012 nominiert. Außerdem sind die Stücke Echte Freind und Glanz der Ferne in die Berliner Auswahl der Liederbestenliste vom April 2012 aufgenommen worden. Was bedeutet Ihnen das?
Sehr viel, da es überregionale Anerkennungen sind. Dem Werk Christian Wagners wieder einmal diese Aufmerksamkeit zu verschaffen, das erfüllt mich schon mit einer gewissen Freude. Seitdem bekommt der Verleger Wagners, ein rühriger Mann, auch einmal eine Bestellung aus Köln oder Berlin. Gehen Sie mal zur Buchhandlung Wittwer nach Stuttgart, dort werden Sie vergeblich eine Wagner-Ausgabe im Lyrikregal suchen.«